Jung-Stiftung stärkt Forschung und Erinnerung in Neuengamme
Mit 477.000 Euro fördert die Jung-Stiftung seit 2024 ein Forschungsprojekt zur medizinischen Versorgung im Konzentrationslager Neuengamme. Im Zentrum steht das Häftlingskrankenrevier als Schlüssel zum Verständnis von Gewalt, Ausbeutung und Überleben im Lager.
Das Häftlingskrankenrevier war der zentrale Ort, an dem sich die Entwicklung der Konzentrationslager ablesen lässt – von minimaler Versorgung in den Anfangsjahren über den Umgang mit Epidemien bei steigenden Häftlingszahlen Anfang der 1940er Jahre bis zur Rationalisierung und Ökonomisierung in den letzten Kriegsjahren. Zugleich spiegelt es die Radikalisierung der NS-Gesellschaft: medizinische Experimente, Selektion und Tötung von als „nicht mehr arbeitsfähig“ eingestuften Häftlingen. Aufgrund der vergleichsweise großen Handlungsspielräume der medizinischen Abteilungen und der vergleichsweise großen Handlungsspielräume der als Pfleger und Ärzte eingesetzten Häftlinge bündelten sich hier Informationen über den Lageralltag; der Schutz vor schwerer Zwangsarbeit ermöglichte es manchen, Aufzeichnungen zu bewahren und nach 1945 auszusagen – zentrale Quellen für das Verständnis des NS-Systems. Trotz dieser Berichte bestehen Forschungslücken: Das Krankenrevier blieb in der Forschung oft randständig, systematische Biografien zu den Häftlingspflegern und -ärzten fehlen weitgehend.
Um diesen Lücken gezielt zu schließen und Zeitzeugnisse dauerhaft zu sichern, setzt das Forschungsprojekt genau hier an. Die Ergebnisse fließen in eine neue Dauerausstellung ein.
Wichtigste Punkte auf einen Blick:
- Das Krankenrevier wird als Handlungsraum untersucht, in dem SS-Gewalt, Funktionshäftlingsrollen und begrenzte Handlungsspielräume aufeinandertrafen – mit unmittelbaren Folgen für Häftlinge.
- Quellenbasis: ca. 2.250 Erinnerungsberichte und über 100 Interviews der Gedenkstätte sowie Verwaltungs-, Ermittlungs- und Prozessakten in Hamburg, Berlin und Großbritannien.
- Nächste Meilensteine: vollständige Erfassung der relevanten Archivbestände in Neuengamme (bis Anfang 2026), Workshop „Krankenreviere in den Konzentrationslagern – Zum Umgang mit Krankheit und Sterben im nationalsozialistischen Lagersystem“ (02/2026), anschließende Arbeit in externen Archiven.
- Teilprojekt SS-Ärzte: Manuskript mit 24 Kurzbiografien liegt vor; die Publikation (ca. 250 Seiten) ist für Anfang 2026 vorgesehen.
- Transfer: Monografie zum Krankenrevier bis 2028; parallel entsteht das Konzept zu „Medizin, Krankheit und Sterben“ für eine neue Dauerausstellung (2027/2028).
Das Vorhaben gliedert sich in zwei Teilprojekte: Anett Dremel, wissenschaftliche Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, erforscht das Krankenrevier anhand umfangreicher Archivquellen; parallel erarbeitet der freie Historiker Dr. Sven Fritz eine Monografie zu den SS-Ärzten des Lagers. In den ersten Monaten wurden der Forschungsstand aufgearbeitet, erste Bestände gesichtet und ein tragfähiges Arbeitskonzept erstellt. Dremels Publikation wird als Dissertation an der Universität Siegen eingereicht; die Betreuung übernimmt Prof. Dr. Noyan Dinçkal, Vorsitzender der GWMT – ein wichtiger Baustein für Qualitätssicherung und medizinhistorische Einordnung.
Diese Forschung macht Verantwortung konkret: Sie schafft belastbare, quellengestützte Grundlagen für Gedenken, Bildung und öffentliche Debatte.
Mit diesem Programm verbindet die Jung-Stiftung Forschung mit Aufarbeitung. 2023 hat die Stiftung, als Reaktion auf Ergebnisse einer von ihr initiierten Studie zu Ernst Jung und seinen Firmen in der NS-Zeit, ein Maßnahmenpaket beschlossen, um die eigene Geschichte aufzuarbeiten, Verantwortung zu übernehmen, Aufklärungsarbeit zu leisten und Menschen in Not zu helfen. Dazu gehört die Unterstützung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.